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Notizen aus einem schwulen Leben

Lieben lernen

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Ein hängender Arsch, Eier bis zu den Kniekehlen und jeden Morgen wachsende Schluchten im Gesicht, die rasiert werden wollen. Das Alter bietet wohl für jede Phobie etwas. Und gerade schwule Männer kennen die Geschwindigkeitsdrosselung, die mit den Altersgrenzen 30, 40 und 50 auf Homo-Datingportalen einsetzt und die nicht nur das Datenvolumen, sondern auch das Ego minimiert. „Alt werden ist nichts für Feiglinge“, sagte meine Großmutter immer.

Treue Leser erkennen die traurige Nachricht schon an der Zeitform: Sie sagt es nicht mehr.

Meine Großmutter, jene Frau, die mit über 80 Jahren noch mit ihren Nachbarn Jägermeister gebechert hat, ist vorletztes Jahr verstorben. Als sie sichtlich geschwächt im Krankenhaus bei ihrer Aufnahme von einer netten Ärztin gefragt wurde, ob sie früher auch mal „ein Gläschen getrunken“ habe, antwortete sie: „Nein, getrunken haben wir nicht. Wir haben gesoffen.“

Gott, ich habe diese Frau geliebt. 91 Jahre ist sie alt geworden. Und als ich ihr vor über 20 Jahren sagte, dass ich schwul sei, meinte sie nur: „Junge, das wusste ich schon länger. Und als ich es begriffen hatte, habe ich eine Nacht schlecht geschlafen, weil ich mir Sorgen um Dich gemacht habe, aber das Thema ist damit durch.“ Und das war es auch. Auf ihrer Beerdigung sprachen mich ihre Nachbarn, die mich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, an, ob ich „der Lieblingsenkel“ sei, der um die Welt fliegt. Und dass ich einen Freund habe, wussten auch alle.

Apropos Lieblingsenkel. Tatsächlich glaube ich, dass ich eine sehr tiefe Bindung zu meiner Großmutter hatte. Und wenn ich mich in meinem schwulen Freundeskreis umschaue, berichten viele, dass sie das Gefühl haben, der Lieblingsenkel zu sein. Ich glaube, dass Omas ein Gespür dafür entwickeln, welches ihrer Enkelkinder es später einmal etwas schwerer im Leben haben wird. Und deswegen geben sie ihnen vielleicht eine Extraportion Liebe mit.

Hat man in der letzten Zeit meine Großmutter gefragt, wie es ihr geht, sagte sie immer „Oben klar und unten trocken.“ Und damit überspielte sie das Drama, immer weniger zu können, immer schlechter Luft zu bekommen und keine geliebten Menschen in ihrem Alter mehr zu haben. Dieser Spruch wurde so legendär, dass er zu ihrem 90. Geburtstag auf ein Banner gedruckt wurde. Und sie blieb bis zum Schluss oben klar.

Und nun stehe ich noch immer hilflos wie ein kleiner Junge vor dem Verlust eines Menschen, dessen Möglichkeiten am Ende mit „oben klar und unten trocken“ beschrieben waren, einem Verlust, der ein riesiges Loch dort reißt, wo ich mich innerlich festhalten konnte.

Und diese hinterlassene Loch macht mir klar, dass es im Alter nicht nur um hängende Ärsche und Falten im Gesicht geht, sondern darum, für andere da zu sein, ihnen zuzuhören und ihnen damit zu helfen, das Leben, diese Reihe von nicht zerstörungsfreien Tests*, so gut wie möglich zu bewältigen.

Mit anderen Worten: zu lieben.

*Michel Houellebecq

Autor: schwulbuch

schwulbuch@outlook.de

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